Kunst im Knast – für jeden eine Zelle

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kunst im knast

 

 

Die Kunst muss in den Knast.

Man kann die Einrichtungen unserer Gesellschaft unter funktionalen Gesichtspunkten betrachten, als Formen der Gestaltung sozialer Massen, als Arbeits- und Lebensraum für die mit ihr befassten Menschengruppe, – man kann sie auch in symbolischer Lesart betrachten. Als ein Mensch der Kunst, der in der Welt lebt wie in einem Wald der Symbole – dans une forêt des symboles, wie der Dichter Charles Baudelaire es formulierte, neige ich zur symbolischen Sicht. In dieser Anschauung schließt ein Gefängnisbau etwas weg, kapselt es ein, löst es aus dem übrigen sozialen Kontext, verdrängt es, will es nicht mehr um sich haben, nicht mehr sehen. Dieses Etwas ist das Andere, das sogenannte Böse, das abweichende, das Schädliche. Schafft es mir aus den Augen, fordert der Bürger, ich will es nicht mehr sehen. Mehr oder weniger lautlos folgt diesem Wunsch die Justiz. Durch die Gefängnismauern dringt selten ein Ton nach Außen. Nur gelegentlich liest man von kurzen, explosionsartigen Revolten. Nun weiß man spätestens seit Sigmund Freud, dass Verdrängungen die Probleme nicht lösen, sondern sogar zu gefährlichen Neurosen führen können, dass umgekehrt im Ausdruck, im Ausformulieren der Schwierigkeiten Heilungschancen liegen. Wenn Picasso in Abwehr ihm lästiger Ansprüche sagte, die Kunst sei nicht erfunden worden, die Wände zu schmücken, sondern als Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind, setzt er sie damit deutlich ab von ihrer gängigen Nutzung als Freizeiterbauung und schönen Schein für die gestressten oder gelangweilten Bürgerinnen und Bürger. Kunst in unserem Verständnis ist darüber hinaus Ausdruck von Existenz und Lebenswillen, ein permanenter Akt der Befreiung aus dem Kreislauf der täglichen Zwänge, in die wir uns selbst auch ohne die Hilfe der Justiz eingesperrt haben. Der Knast in seiner strikten, durchorganisierten und beaufsichtigten Enge ist ein deutliches, wenn auch reduziertes Abbild der verwalteten Welt jenseits der Gefängnismauern. Die Kunst ist in diesem Zusammenhang zu begreifen als ständig variable Ausdrucksform der Revolte gegen den zuletzt tödlichen Kreislauf des Absurden im Alltag, gegen die von ihr selbst konstruierten Zwänge der Gesellschaft, ohne die sie umgekehrt nicht existieren kann. Im Wechselspiel von Zwang und Revolte entfaltet sich menschliche Existenz. Diese Sprengkraft der Kunst wird wiederum in kontrollierbaren Zellen gezähmt, in Galerien, Museen und Kunsthallen auf ihren weniger gefährlichen, immanenten Kreislauf als eine Art Hofgang zurückgefahren. Die Kunst muss in den Knast. Gewachsen in einer Welt des Zwanges ist sie ständiger Akt der Befreiung. Nach den Untersuchungen der Sozial- und Bildungsstruktur von Häftlingen ist deutlich geworden, daß die überwiegende Anzahl von ihnen über ein geringes Bildungsniveau verfügt und bereits vor ihrer Tat eingeschränkt war in der individuellen Entfaltungsmöglichkeit. Das Verbrechen war für die meisten von ihnen nicht Ausdruck einer Befreiung, eines souveränen Überspringens gesellschaftlicher und moralischer Normen sondern fast zwanghafte Handlung unter sozialem und psychologischem Druck, der für sich kein anderes Ventil und keine andere Ausdrucksmöglichkeit gefunden hat. So bereits stark reduziert in ihrer Persönlichkeit, geraten die Gefangenen in eine Zellenwelt, die ihnen keine weitere Entfaltungsmöglichkeit bietet. Sie werden noch weiter zurückgeschnitzt und zuletzt verstümmelt. Was als Ausgangspunkt und eine wesentliche Ursache ihres Vergehens betrachtet werden muss, wird weiter verstärkt. So gesehen, sind Gefängnisse Internate des Verbrechens und nicht soziale Einrichtungen der Rehabilitation. Beengte, unentwickelte, schlecht ausgebildete Menschen geraten in eine dumpfe, hilflose Aggressivität ihrer Umwelt und anderen Menschen gegenüber. Die Unfähigkeit, sich zu artikulieren, seine Fantasien und Wünsche wenigstens in Teilbereichen auszuformen und zu leben, schlägt um in eine Konditionierung zum Verbrechen aus der Not der Regression. Die vielfältige Sprache der Kunst, die sich in unserer Urgeschichte aus der Enge und Dunkelheit von Höhlen entwickelte, ermöglicht eine wortlose Artikulation, welche eng an die psychische Struktur gebunden ist und einen ständigen Akt der Befreiung und zugleich eine Ausbildung von Empfindung und Sinnlichkeit sichtbar macht. “Kunst im Knast – für jeden eine Zelle”. Unter diesem Signal habe ich vor einem Jahr dieses Projekt angekündigt, das bei den Studierenden auf wachsendes Interesse und zuletzt auf intensives Engagement gestoßen ist, das weit über die studienbezogene Arbeit hinausgeht. Die Studierenden haben in der existentiellen Not des Eingesperrt seins zugleich eine gleichnishafte Form der eigenen Enge gesehen, die es täglich und stündlich durch Gestaltung darzustellen und zu überwinden gilt. Die in diesem Buch und der gleichzeitig entwickelten virtuellen Welt eines begehbaren Gefängnisses, das zugleich für eine kurze Zeit ein Ort der Kunst wird, vorgelegten Arbeiten fordern in deutlicher, visueller Sprache dazu auf, Enge und Abgeschlossenheit zu erkennen, und zu überwinden. Sie richtet sich an alle Menschen. Unser Dank gilt allen Mitwirkenden.

Herford, 25.9.1996

Jörg Boström

Panoramafotografie, Tutor des Projekts am FB Gestaltung FH Bielefeld 1996:
Markoh Kintero

 

 

Weitere Arbeiten im Katalog:
Boström, Jörg / Beaugrand, Andreas
Kunst im Knast - Fotografie, Grafik, Malerei, Skulptur
Hermann Busch Verlag 1996
ISBN: 3926882050  ISBN-13: 9783926882059

 

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