Seestücke – Sehstücke – Nahsicht – Fernsicht

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Text: Annette Bültmann

 

Im 17. Jahrhundert etablierte sich in den Niederlanden die Marinemalerei, die Darstellung des Meeres mit Wasserfahrzeugen, nachdem bereits im 16. Jahrhundert Schiffe aufgetaucht waren in Darstellungen von Hafenstädten, oder auf Gemälden mit religiösen oder mythologischen Themen.
Solche Darstellungen des Meeres mit Schiffen, manchmal auch mit Küstenstreifen, mal bei ruhiger, mal bei stürmischer See, werden auch Seestücke genannt.
Aber die Geschichte der Seestücke begann nicht erst im 16. Jh. n. Chr., sondern bereits in der Antike gab es Schiffsdarstellungen, wie das Schiffsfresko von Akrotiri, entstanden ca. 16. Jh. v. Chr., sehr gut erhalten durch Luftabschluss nach einem Vulkanausbruch. Auf diesem sind 14 Schiffe und Boote dargestellt, die sich nach Westen zu bewegen scheinen. Die Schiffe, die sich auf dem Meer von einer Landmasse zur anderen bewegen, werden auch als Schiffsprozession bezeichnet, es wird vermutet, dass die Wandgemälde in dem Raum im Obergeschoss eines Hauses kultischen Zwecken dienten. Der Fundort ist die Ausgrabungsstätte von Akrotiri auf der Kykladeninsel Santorin.
Das Schiffsfresko von Akrotiri bleibt teilweise rätselhaft durch die lange Zeit, die seit seiner Entstehung vergangen ist.
Ein weiteres rätselhaftes Seestück ist das verschwundene Gemälde von Pieter Brueghel “Schiffe in ruhiger See”, das durch Inventareinträge dokumentiert wird, und von dem einige Kunsthistoriker vermuten, dass es als Bild im Bild in “Allegorie des Sehens” bzw. “Der Gesichtssinn” von dessen Sohn Jan Brueghel, ausgeführt gemeinsam mit Peter Paul Rubens, zu sehen ist.

Jan Brueghel der Ältere (1568–1625) Der Gesichtsinn Quelle: Wikimedia Commons

Dies ist eins von mehreren Bildern, die Allegorien der fünf Sinne darstellen,
es ist in diesem Fall ein großer Raum mit vielen Bildern und modellierten Köpfen zu sehen. Das Thema der fünf Sinne war zu der Zeit verbreitet in der niederländischen Malerei. Sehen und Hören wurden dabei als die wichtigsten Sinne betrachtet, aber auch der Tastsinn, Geruch und Geschmack wurden in Bildern allegorisch dargestellt. Mit dem Thema Beheizung des großen Ateliers, in dem sich immerhin zwei nackte humanoide Figuren, zwei Affen und ein kleiner Hund aufhalten, in der “kleinen Eiszeit” zur Entstehungszeit des Bildes, einer Kaltzeit durch globale Temperaturschwankungen, die auf die mittelalterliche Warmzeit folgte, würde mit Wärme- und Kälteempfindung eher der Bereich des Tastsinns angesprochen, das würde möglicherweise zu einem anderen Thema hinführen. Da es sich um eine Allegorie handelt und daher nicht unbedingt eine reale Atelierszene dargestellt ist, soll die Kaltzeit hier nur am Rande erwähnt werden.
Sowohl die beiden menschlichen Figuren, eine weibliche Figur und ein geflügelter Knabe, als auch die kleinen Affen personifizieren in diesem Fall den Sehsinn.
In dem Bild “Allegorie des Sehens” finden sich sowohl Hinweise auf in die Ferne sehen, wie ein Fernrohr auf einem Stativ, ein Globus, Navigationsinstrumente und Landkarten  und eine Armillarsphäre (ein Modell des Sternenhimmels) als auch Hinweise auf Nahsehen, aus der Nähe Betrachten, der geflügelte Knabe hält ein Bild, das die weibliche Figur betrachtet, ein Affe sitzt mit einer Brille vor dem Seestück als Bild im Bild. Das Seestück, das ja ansonsten die Weite des Meeres zeigt, wird hier mit Linsen fokussiert. Ein weiterer Affe kommt mit einem langen Gegenstand, vermutlich einem weiteren Fernrohr, an der Seite neben dem Bild hervor.

Jan Brueghel der Ältere (1568–1625) Der Gesichtsinn, Ausschnitt

Die Fernsicht ermöglicht heute mit Teleskopen einen Blick in entfernte Regionen des Universums, und die Raumfahrt macht Reisen uns All möglich, besonders in Sci-Fi Filmen und Serien. Hier werden die Raumschiffe, nicht umsonst Schiffe genannt, immer wieder in Verbindung gebracht mit der Geschichte der Seefahrt. Die bekanntesten fiktiven Raumschiffskapitäne James T. Kirk und Jean-Luc Picard sind im Besitz von Schifsmodellen bzw. Büchern über historische Seefahrer. Wie wird ein Seestück aussehen, wenn man 3000 Jahre in die Zukunft reist? Wird es Raumschiffe im Anflug auf einen Planeten zeigen, oder zeigt es die Bilderwelt der Nahsicht, mikroskopische Sonden, die in Flüssigkeiten schwimmen?

Zunächst aber begegnen sich in der aktuellen Kunst Malerei und Fotografie in Seestücken, die teilweise als Malerei nach Fotografien entstehen, und meist das Meer ohne Schiffe zeigen. So auch die Ende der 60er Jahre entstandenen Seestücke von Gerhard Richter, die Wasseroberfläche und Himmel zeigen, und die nach Urlaubsfotos entstanden. Wenn Künstler am Meer Urlaub machen, begegnen sie dem Ozean in dem Wissen, dass eine lange künstlerische Tradition verschiedene Sichtweisen auf das Meer hervorgebracht hat, und Seestücke in den vergangenen Jahrhunderten mit bekannten Namen in Verbindung gebracht werden wie Caspar David Friedrich, Emil Nolde, Paul Klee, Max Liebermann, Otto Dix, Lyonel Feininger, Franz Radziwill, Andy Warhol, Roy Lichtenstein aber auch Fotokünstler, wie Gustave Le Gray zur Pionierzeit der Fotografie, oder in neuerer Zeit z.B. Franco Fontana und Hiroshi Sugimoto, trugen zur Tradition der Seestücke bei.

Jörg Boström: Schatten am Meer

Ebenfalls in dieser Tradition stehen Bilder von Jörg Boström, Malerei und Fotografien, die nach Urlaubsreisen auf die Insel Norderney entstehen, und teilweise Meereshorizonte zeigen, teilweise aber auch Menschen am Meer und ihre Schatten. Schatten die manchmal eine Art Eigenleben entwickeln in Form der für Jörg Boström charakteristischen  Schattenbilder. Auch hier sind die Schiffe weitgehend aus den Seestücken verschwunden. Die Nahsicht und gleichzeitige Fernsicht zeigen sich hier im Blick auf den benachbarten Strandkorb links im Bild, und das Meer im Hintergrund.

Jörg Boström: Strand Norderney

Siehe auch:

Wasserhorizonte
http://www.vm2000.net/7072/

Seestücke
http://www.vm2000.net/5030/

 

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