Die Papier-Demokratie braucht Notstandsgesetze! Die echte nicht!
Text: Jürgen Meier
Fotografien: Jörg Boström
2. Juni 1967: Der Student Benno Ohnesorg wird in Berlin, wo er an einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien teilnimmt, von einem Polizeibeamten erschossen. Der Schah, der mit brutaler Staatsgewalt seine Herrschaft verteidigt, wurde in Berlin von 30.000 Polizisten geschützt.
„Die Polizei scheint gewillt, mit dem Schah den Notstand zu üben,“ schrieb die „Augsburger Allgemeine“ und die „Süddeutsche Zeitung“ notierten: „Die Majestäten durchreisten einen eigens für sie ein gerichteten Polizeistaat.“ Die Ermordung löste bundesweit heftige Proteste und Demonstrationen aus. Eine Generation von jungen Menschen, die bislang nichts mit Politik zu tun haben wollten, suchten ihren Weg in ein menschliches Leben. „Heute Terror gegen Studenten – morgen gegen Arbeiter!“. „Benno Ohnesorg – erstes Opfer der Notstandsdemokratie“, riefen demonstrierende Studenten in Mannheim. In Düsseldorf provozierten 2500 Jugendliche die Passanten mit der Frage:„Heute ein demonstrierender Student – morgen ein streikender Arbeiter?“ In Frankfurt riefen alle Jugend- und Studentenverbände sowie 31 Gewerkschaftssekretäre zum Trauer- und Protestmarsch auf. Die mehr als 8.000 Demonstranten forderten: „Nie wieder Polizeistaat!“. „Entmachtung von Springer“.
„An den Westberlinern ist der Notstand probiert worden,“ sagte der Marburger Professor Wolfgang Abendroth anlässlich einer Podiumsdiskussion in Hannover, die im Anschluss an die Beerdigung von Benno Ohnesorg stattgefunden hatte. In Westberlin sei „vorweggenommen, was uns allen droht, wenn die große Koalition in Bonn die Notstandsverfassung in Kraft setzt. Was würden die Leute, die ihre Sporen im Dritten Reich verdient mit dieser Notstandsverfassung anfangen?“ fragte er.
Notstand der Demokratie
Das Grundgesetz wollten jene, die dem Faschismus eifrigst gedient hatten, durch die Einführung von Notstandsgesetzen durchlöchern. Doch der frühe Protest machte es den Parlamentariern nicht leicht, ihr Vorhaben umzusetzen. Mehr als 1300 Professoren, Schriftsteller und Künstler hatten bereits 1964 einen Aufruf der „Humanistischen Union“ unterschrieben, der gegen die geplanten Notstandsgesetze protestierte. Im Mai 1966 unterstrich der Bundeskongress des DGB den Beschluss von 1962, der die Notstandsgesetze bereits abgelehnt hatte. Karl Jaspers, der aus Furcht vor den Notstandsgesetzen und nach der Wahl des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler, die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm, schreibt am 2. Mai 1966 im „Spiegel“: „Das Notstandsgesetz sichert nicht das Volk, sondern die Regierenden. Vorsorgliche Gesetze für die Erklärung des inneren Notstands und für die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung sind in der Tat Sicherungen einer Parteienoligarchie, ihrer Regierungsmacht und der ihnen verbundenen mächtigen Interessen, auch dann, wenn diese nur eigensüchtig und vernunftwidrig sind.“
Die Ermordung Ohnesorgs war für Abendroth, Heinrich Böll, Martin Walser, Erich Kästner und vielen anderen, die am 30. Oktober 1966 das Kuratorium „Notstand der Demokratie“ gegründet hatten, ein Zeichen der Restauration des Faschismus, die nur durch die Bündelung aller demokratischen Kräfte verhindert werden könne. Denn „die Kraft, die Dinge zu verändern und die Demokratie zu retten“, so Abendroth nach der Beerdigung, „ist unter den Millionen Arbeitern zu suchen. Mit dieser Kraft müssen wir uns zusammenschließen, um uns vor dem Unheil zu bewahren und um die Schäden der Vergangenheit zu beseitigen.“ Es müsse jetzt „die in der Stunde der Trauer und der Empörung geborene Gemeinsamkeit“ ausgebaut werden.
Das Kuratorium, zu dem 1967 mehr als 150 lokale und regionale Gruppen gehörten, hatte bereits am Tag seiner Gründung auf dem Frankfurter Römerberg 30.000 Menschen gegen die Notstandsgesetze mobilisieren können. Hier sagte Georg Benz (IGM-Vorstandsmitglied): „Die Gefahr, die uns droht ist der totale Staat im Gewande der Legalität– die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie. (…) Nur derjenige, der die Notstandsgesetze nicht isoliert sieht, sondern als Teil eines Stahlnetzes, das die Demokratie umspannt und in ein ebenso komfortables wie unerbittliches Staatsgefängnis umwandeln kann, der sieht hier richtig.“ Neben Benz sprachen die Kuratoriumsmitglieder Ernst Bloch, der vor der „Selbstausschaltung“ der Demokratie warnte, Hans Magnus Enzensberger, der verlangte, „dass das Gesetz aus dem Bunker tritt. Wir verlangen, dass das Parlament, am helllichten Tage, diesem Spuk ein Ende macht“, und Helmut Ridder, der analysierte, man müsse „die ganze Notstandsplanung im großen Zusammenhang der in Gang befindlichen `legalen´ stillen Auflösung der grundgesetzlichen Demokratie sehen, sie stellt nur eine, allerdings besonders einschneidende Phase des Niedergangs dar.“
Ein Schwein auf dem Richtertisch
Bildende Künstler kämpften in dieser Zeit mit ihren Mitteln gegen die Einführung der Notstandsgesetze und bekamen die harte Hand des Staates, der die Freiheit der Kunst als Staatsbedrohung begriff, deutlich zu spüren. Der Künstler Hans Peter Alvermann, der von 1954- 58 an der Düsseldorf Kunstakademie studiert hatte, schuf Schweine aus Plastik, die die Nationalfarben trugen und auf deren Rücken ein Hakenkreuz im weißen Kreis leuchtete. Das sollte eine Warnung vor den drohenden Notstandsgesetzen sein. Auf einigen Schweinen schrieb Alvermann: „Wenn ich fett und voll bin, muss ich geschlachtet werden“. Für die Staatsanwaltschaft verstießen die Schweine gegen die Paragraphen 86 a und 90 a des Strafgesetzbuches und erfüllten damit den Tatbestand der Verunglimpfung der Bundesrepublik Deutschland. Hausdurchsuchungen wurden veranlasst, da die Ermittler „Gefahr im Verzuge“ sahen. Die 1. Große Strafkammer des Kölner Landgerichts beschloss die Beschlagnahmung der Schweine.
Fotografien von Jörg Boström: Ein Richterspruch hatte das “Notstandsschwein” von H.P. Alvermann verboten, ironischerweise wegen der Verwendung von Nazisymbolen – hier Hakenkreuz auf Bundesfarben auf Sparschwein. Vorbespechung der Protestaktion im PSR.Studio des Atelierhauses in Düsseldorf mit Koenig, Pachl, Immendorff, Grötzinger u.a. 18. Winterausstellung im Ehrenhof, 15.12.68
Protest mit Flugblatt, Fahne und Megaphon in der für eine Vitrine mit “Notstandsschweinen” vorgesehenen Winterausstellung, aus der tags zuvor die Schweine von der Staatsanwaltschaft entfernt worden waren. Diskutanten, Zuschauer, Presse. Skulptur von H.P. Alvermann mit aufgeklebtem Flugblatt.
1968 Notstandsgesetze – 1975 Berufsverbote!
Am 11. Mai 1968 demonstrierten 150.000 Menschen auf der Straße. Innenminister Benda beschimpfte sie als „Hilfstruppen der Kommunisten“. Als Präsident des Bundesverfassungsgerichts traf Benda drei Jahre später auf den Richter Willi Geiger. Der hatte als Nazi-Richter in Bamberg mindestens fünf Todesurteile verkündet, u.a. gegen einen 19jährigen Juden wegen „Rassenschande“. Geiger war in Sachen Berufsverbote ein erfahrener Mann. Er hatte als SA-Mann 1941 in seiner Dissertation geschrieben: „Die Vorschrift hat mit einem Schlag den übermächtigen, volksschädigenden und kulturverletzenden Einfluß der jüdischen Rasse auf dem Gebiet (der Presse) beseitigt“. Benda brauchte ihn, um den „Radikalenerlass“ der Ministerpräsidenten von 1972, dem Berufsverbote in Massen folgten, als Notstandsmaßname des Staates abzusegnen.
Heinrich Böll, der gegen die Berufsverbote und Notstandsgesetze kämpfte, sagte am 11. Mai 1968 auf dem Sternmarsch in Bonn, den das Kuratorium „Notstand der Demokratie“ vorbereitet hatte: „Als Person aufgrund meiner Erfahrungen mit verschiedenen Notständen der deutschen Geschichte bin ich der Überzeugung, dass Notstände – was hier bedeutet Krieg oder Bürgerkrieg – durch Gesetze nicht zu regeln sind.“
Der DGB hatte den Sternmarsch nicht mehr unterstützt. Er organisierte am gleichen Tag eine eigene Großkundgebung gegen die Notstandsgesetze in Dortmund. Parallel zu den beiden Großkundgebungen fanden Protestdemonstrationen in Frankfurt, München, Göttingen, Hamburg, Berlin und Freiburg statt. Dennoch passierten die Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 mit großer Mehrheit den Bundestag. Willy Brandt hatte die SPD auf ihrem Parteitag in Nürnberg, der zwei Monate vor der Abstimmung im Bundestag statt fand, von der Notwendigkeit der Gesetze überzeugt.
Die Proteste hatten zwar eine Niederlage erlitten, aber wenigstens konnten sie die Notstandsgesetze mildern. Jürgen Seifert resümierte, die Opposition habe „in dem jahrelangen Kampf gegen die Vorhaben der Bundesregierung Erfolge erzielt. Wir haben Entschärfungen durchsetzen können, aber wir sollten nichts beschönigen. Es ist eine Niederlage.“ Zu den Entschärfungen zählte, dass im Kriegsfall allein ein „Notparlament“ aus Bundesrat und Bundestag Gesetze erlassen darf, die Gewerkschaften ihr Streikrecht behalten durften und das derartige Überlegungen, wie sie der Bundesjustizminister Dr. Neumayer geäußert hatte, im Falle des Staatsnotstandes müsse „die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe gegeben sein“, keine Berücksichtigung fanden. Dennoch wurde das Grundgesetz durch die Notstandsgesetze durchlöchert. Das Grundrecht im „Verteidigungsfall“ wurde eingeschränkt, der Einsatz der Bundeswehr im Innern „zum Schutz von zivilen Objekten und zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ wurde gebilligt. Im „Spannungsfall“, der von einer internationalen Organisation wie der NATO festgestellt wird, kann der Bundestag die „einfachen“ Notstandsgesetze in Kraft setzen. Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) dürfen durch ein Gesetz zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Weise beschränkt werden, dass dagegen kein Rechtsweg gegeben ist (wie ihn Art. 19 Abs. 4 GG sonst vorschreibt), sondern eine allein parlamentarische Kontrolle stattfindet. Der Freizügigkeit der Person (Art. 11 GG) darf unter den Bedingungen des Notstands eingeschränkt werden.
Für die APO, zu der in den 60ern nicht nur Studenten und Professoren, sondern auch Gewerkschafter und christliche Gemeinschaften zählten, gehörten die Kämpfe gegen die Notstandsgesetze, gegen die elitär-autoritäre Hochschulausbildung und die Proteste gegen den Vietnam-Krieg zu den wichtigen Meilensteinen in ihrem Kampf um Demokratie. Die Notstandsgesetze öffneten für weitere Angriffe auf die demokratischen Rechte des Volkes weit die Türen, durch die 1972 der „Radikalenerlass“ marschierte und seit 1990 weitere Angriffe auf das Grundgesetz erfolgten. Widerstand, wie in den 60/70er Jahren, hat es gegen die Neuregelung des Asylrechts, den Großen Lauschangriff oder gegen die Bundeswehreinsätze im Ausland nicht gegeben.
Die Papierdemokratie oder die De-facto Demokratie
In einem Interview mit Günter Gaus antwortete Rudi Dutschke (1966) auf die Frage, was er von den Parteien halte: Sie seien „Instrument um die bestehende Ordnung zu stabilisieren“ und das „parlamentarische System“ sei „unbrauchbar“ um eine wirkliche Demokratie zu schaffen. Die „antiautoritär und antifaschistische Einheitsfront“, so Dutschke, wolle nicht nur die gesellschaftlichen Besitzverhältnisse verändern. Er verlangte von sich selbst die ständige Selbstreflexion auch des eigenen Verhaltens gegenüber seiner Frau, seinen Freunden, seinen Kindern, die er liebevoll „die geliebten Banditen“ nannte. Er schreibt: „Die Selbstreflexion und eine verändernde Selbstkritik wären die höchsten Grade menschlicher Weiterentwicklung. Selbstkritik hat in sich ein – Selbst -, d.h. ein konkretes Individuum erkennt sich seiner selbst, ist sich seiner Lage, Rolle und Bedeutung „klar“ genug bewusst.“ Demokratie war kein Abstraktum für ihn, sondern bezog sich stets auf die Entfaltungsmöglichkeit des konkreten Menschen. Das parlamentarisches System war für ihn nur ein demokratischer Schein, der die Initiative zur Vermenschlichung des konkreten Menschen lähme. Der Kampf der APO war ein Kampf für einen konkreten Humanismus. Staatlicher Zwang, getarnt mit abstraktem Humanismus (Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit), aber ganz im Interesse einer Monopolbourgeoisie, behindert Mensch und Demokratie.
Für den Rechtsanwalt Heinrich Hannover basierte die Konzeption der Notstandsgesetze auf der Grundüberzeugung, der Staat dürfe und müsse alle Lebensbereiche aller Menschen seiner Planung unterwerfen. Das Einzelwohl müsse sich dem Gemeinwohl opfern. Was Gemeinwohl ist bestimme der Staat, der behauptet, er habe sich durch Wahlen demokratisch legitimiert. Dabei, so stellte Professor Werner Hofmann in den damaligen Kämpfen fest, habe, in einem Maße wie nie zuvor in Deutschland, der führende Teil der Privatwirtschaft selbst sich des Staates bemächtigt.
Die zentrale und demokratisch als Parlament getarnte Staatsmacht der „Privatwirtschaft“ vor Augen, schrieb Oskar Negt: „In den westlichen Demokratien entfalten sich Rätegedanken in einem Klima, das durch die Rückbildung des Parlamentarismus, durch die Tendenz zur Verstaatlichung der Parlamente bestimmt wird…Die Demokratisierung der Gesellschaft muss dagegen in den Bereichen beginnen, die die alltägliche Erfahrungen der Menschen bestimmen: in den Betrieben, Büros, Schulen, Universitäten. Wenn sie hier keine Kontroll- und Selbstbestimmungsrechte haben, werden sie auch in den politischen Bereichen nur Objekte von manipulierten Eliten sein…Wo sich Räte in den Institutionen heute etablieren, nehmen sie den sozialistischen Gedanken der Selbstverwaltung auf – nicht nur eines einzelnen Betriebes, sondern der Gesamtgesellschaft. Das bedeutet: Aufhebung der Politik als einer von den gesellschaftlichen Lebenserscheinungen arbeitsteilig getrennten Sphäre. Wer sagt, dass Selbstverwaltung in diesem Sinne unrealisierbar sei, muss die Hoffnung auf eine demokratische Gesellschaft aufgeben: ihm sind die Abhängigkeitsverhältnisse, die das gegenwärtige Herrschaftsverhältnis erzeugt, zu Naturverhältnissen geworden“.
Für die APO sollte die Demokratie nicht länger eine papierne Demokratie sein, sondern sie sollte Volksherrschaft sein. Also eine direkte Lebens- und Arbeitsform der Gesellschaft, in der die Menschen konkret als Einzelne und als gesellschaftliche Wesen sich an Fähigkeiten, Erkenntnissen und Sinnlichkeit bereichern. Der ungarische Philosoph Georg Lukacs, sagte in einem Gespräch mit Wolfgang Abendroth: „In Wirklichkeit ist ja diese Notstandsgesetzgebung nichts anderes als die juristische Präparation der totalen Beseitigung demokratischer Rechte und Freiheiten, die die Bourgeoisie missbraucht. Wir kommen immer auf diesen prinzipiellen Aspekt zurück, dass es sich um den Kampf um eine De-facto-Demokratie handelt, nicht um eine Papierdemokratie, denn eine Papierdemokratie herrscht heute in der ganzen Welt, sogar in der stalinistischen Zeit gab es auf dem Papier ein geheimes Wahlrecht…Reale Parole und Kristallisationspunkt muss es heute sein, die Papier-Demokratie, die überall vorhanden ist, in eine De-facto-Demokratie zu verwandeln.“