Fahrt mit der Evangelischen Jungenschaft 1951, Bericht von Hellmut Grau

Share

Fahrt mit der Evangelischen Jungenschaft
(20. – 21. Juli 1951)

von Hellmut Grau

Als ich 14 Jahre alt wurde, fanden meine Eltern, ich müsse allmählich mal selbständiger werden. Als probates Mittel, dies zu erreichen, sahen sie eine zünftige Fahrt mit anderen Jungen an. Da ich jedoch nicht wusste, wie ich das machen sollte, suchte man mich in einem Verein unterzubringen, der so etwas organisierte.

So kam es, dass mich eines Tages Lutz Diese ansprach: „Du, ich habe mich mit Deiner Mutter unterhalten; ich finde es prima, dass Du bei uns eintreten willst!“ – „Wieso, wo eintreten?“ fragte ich ahnungslos. „Na, bei den Pfadfindern!“ – „Ach,“ stotterte ich ausweichend, „davon weiß ich ja gar nichts.“ Dann ging ich empört zu meiner Mutter und sagte ihr die Meinung, und dass ich keine Lust zu den Pfadfindern hätte. Schließlich konnte meine Mutter mich ja fragen, bevor sie Abmachungen über mich traf. Auf diese Weise war meine Karriere als Pfadfinder beendet, bevor sie begonnen hatte.

Allerdings hätten meine Eltern sich mit diesem Fehlschlag wohl nicht so ohne weiteres abgefunden, wenn sie nicht um die gleiche Zeit gehört hätten, dass meine Freunde Fred und Jörg kürzlich der Evangelischen Jungenschaft beigetreten waren, und dass diese für den Sommer eine Radtour plane. Meine Mutter war natürlich sofort Feuer und Flamme und schwärmte, das sei doch was für mich. Da Fred und Jörg mit von der Partie waren, hatte ich diesmal nicht allzu viel dagegen. Mein Haupteinwand, ich könne noch nicht Mitglied der Jungenschaft werden, weil ich noch nicht konfirmiert sei, wurde durch Freds und Jörgs Fürsprache bei dem Leiter der Gruppe zunichte gemacht, denn dieser ließ mir ausrichten, das sei kein Problem. Daraufhin bequemte ich mich, mal zu einem der Abende mitzugehen, um mir den Betrieb anzusehen. Man nahm mich kameradschaftlich und ohne viele Umstände auf, und auch mein altes, von meinem Vater übernommenes Fahrrad, mit dem trotz liebevoller Pflege nicht mehr viel los war, wurde bedenkenlos als tourentauglich akzeptiert. Beim nächsten Mal ging ich wieder mit, und da mir der Laden gefiel, blieb ich dabei,

Der Hauptgrund für diese Entscheidung lag in der Person des Leiters der Gruppe. Klaus war aber auch wirklich ein patenter Kerl. Er wusste unzählige Jungenspiele, Kunststückchen, Lieder und Geschichten und ließ nie Langeweile aufkommen. Hinzu kam, dass er – jedenfalls für mich – so einen gewissen komischen Zug hatte. Es gibt Menschen, die mich schon zum Lachen reizen, wenn sie nur eine belanglose Bemerkung oder Bewegung machen. Zu dieser Spezies gehörte auch Klaus. Das soll jedoch nicht heißen, dass er irgendwie lächerlich gewesen wäre – mit Lächerlichkeit hat das Phänomen überhaupt nichts zu tun. Vielmehr erkannten wir Klaus ohne Einschränkung als Vorbild und als die Seele des Geschäfts an. Klaus brachte es fertig, jeden Freitag Abend bis zu einem Dutzend „Halbstarke“ um sich zu versammeln, obwohl außer einem kahlen Raum im Gemeindehaus und einer Wiese hinter Baracken auf der anderen Straßenseite keinerlei Betriebskapital vorhanden war.

Während des Sommers betätigten wir uns meist auf der besagten Wiese. Man konnte dort zwar nicht viel anfangen, aber wir wollten das ändern und einen Korbballplatz anlegen. Dem stand allerdings ein großer Betonklotz entgegen, der einmal das Fundament eines Kinderkarussells gewesen war. Darum mühten wir uns etliche Abende damit ab, dieses Ding auszubuddeln und mit Kreuzhacken allmählich zu zertrümmern. Bei Einbruch der Dunkelheit gingen wir dann ins Gemeindehaus und machten Bibelarbeit und Spiele.

So weit war alles in bester Ordnung. Nur die eigentliche Spekulation meiner Eltern ging nicht auf, denn die vorgesehene zünftige Radtour wurde aus irgendwelchen Gründen kurzfristig abgesagt. Stattdessen gab es Ende Juli nur eine Wochenendfahrt zur Bevertalsperre bei Hückeswagen, aber für mich war das auch schon was. Ich war nämlich mit dem Fahrrad noch nie über das Freibad in Dabringhausen* hinausgekommen, hatte noch nie in einem Zelt übernachtet, noch nie auf einem Lagerfeuer gekocht und besaß außer einem Fahrtenmesser auch keinerlei Ausrüstung.

Die Startbedingungen waren etwas strapaziös. Schon der Vortag war randvoll: Bis halb zwei Schule in Wiesdorf, nachmittags Konfirmandenunterricht, abends Jungenschaft – beides in Schlebusch -, und anschließend musste ich mit Fred und Jörg zum dritten Mal nach Schlebusch, um bei Bekannten von Bekannten ein „Amizelt“ auszuleihen. Am nächsten Tag sollte es dann gleich nach der Schule losgehen. Das Bewusstsein, dies alles geschafft zu haben, verlieh eine gewisse Befriedigung. Außerdem war es ein geradezu erhebendes Gefühl, eine richtige Zeltplane in seinem Gepäck zu wissen.

Als wir uns vor dem Gemeindehaus versammelt hatten und gerade aufbrechen wollten, entdeckte der dicke Brunn, dass seine Fahrradkette im Eimer war. Das konnte uns eine Menge Zeit kosten, aber Brunn sagte, wir sollten nicht auf ihn warten und versicherte beruhigend: „Isch kumm nach, isch han jo en Landkart.“ Daraufhin machten wir uns ohne ihn auf den Weg.

Wir kamen aber zunächst auch nur bis Altenberg, denn dort kriegte Klaus eine Reifenpanne. Wie üblich war das Loch im hinteren Schlauch, damit es sich auch lohnte, und außerdem so unauffällig, dass man den Schlauch unter Wasser halten musste, um es überhaupt zu finden. Da war es noch ein Glück, dass die Panne gerade in dem Augenblick entdeckt worden war, als wir die Dhünn überquerten.

Nachdem wir das Loch geflickt hatten, konnten wir unsere Fahrt ohne weitere Zwischenfälle beenden. Dank der kalorienreichen, wenn auch nicht sehr schmackhaften Blockschokolade, mit der meine Mutter mich versorgt hatte, bekam ich auch keine Konditionsschwierigkeiten.

An der Bevertalsperre angekommen, hatten wir bald einen brauchbaren Lagerplatz gefunden, der allerdings schon sehr bevölkert war. Wir bauten zuerst zwei unserer drei Zelte auf und badeten dann ausgiebig. Warum das dritte Zelt nicht gleich mit aufgebaut worden war, kapierte ich erst, als ein Kerl die Runde machte und Benutzungsgebühren kassierte. Diese Gebühren richteten sich nämlich nach der Zahl der Zelte. Ich war doch sehr erstaunt über den Geschäftssinn christlicher junger Männer.

Inzwischen hatte sich – dank seiner Landkarte und einer neuen Fahrradkette – auch der dicke Brunn eingefunden. Da es außerdem zu dämmern begann, wurde es Zeit, sich um das Essen zu kümmern. Das einzige, was uns dafür noch fehlte, war Holz für ein Lagerfeuer. In der näheren Umgebung des Zeltplatzes gab es so etwas natürlich nicht mehr. Daher schickte man mich mit zwei anderen auf Holzsuche in den Wald, der auf der anderen Seite des Sees lag. Dort war zwar an dürren Ästen kein Mangel, doch konnten wir wegen der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch etwas sehen. Trotzdem bekamen wir in kurzer Zeit solche Mengen von Ästen und Gestrüpp zusammen, dass wir sie nicht auf die Gepäckträger schnallen konnten, sondern an Leinen hinter uns her ziehen mussten. Mittlerweile war es Nacht geworden. Die Bäume und Büsche rechts und links des Weges waren nur noch Silhouetten. Unsere Scheinwerfer zauberten schwankende Lichtflecken vor uns auf die Erde. Die Luft war noch voller Sonnenwärme, aber auch voller Motten, die uns immer wieder ins Gesicht flogen. Außer dem Zirpen der Grillen, dem Surren der Dynamos und dem Schleifen der Astbündel hinter uns herrschte nächtliche Stille. Es war ganz entschieden romantisch.

Während das Lagerfeuer vorbereitet wurde, fand jemand einen verrosteten Eimer ohne Boden, spielte ein bisschen damit Fußball und kam dann auf die Idee, aus dem Eimer einen Herd zu machen. Das fand Zustimmung. Wir bauten also ein u-förmiges Fundament aus umherliegenden Feldsteinen, füllten die Höhlung mit Zeitungspapier und Holz, stülpten den Eimer umgekehrt darüber und setzten den Kochtopf oben drauf. Dann zündeten wir das Papier an und warteten, was passieren würde.

Wenn es auf möglichst viel Qualmentwicklung angekommen wäre, hätten wir vollauf zufrieden sein können. Mit dem Feuer wollte es allerdings so recht nichts werden. Wir kamen auch bald dahinter, woran das lag: Der Topf stand gewissermaßen auf dem Kamin und verhinderte dadurch den notwendigen Zug. Um diesen Mangel zu beheben, hätten wir den Topf herunternehmen müssen, aber dann wäre die Suppe auch nicht warm geworden. Daher versuchten wir, den oben fehlenden Abzug durch verstärkte Luftzufuhr von unten auszugleichen, indem wir aus Leibeskräften in das Feuerloch hineinpusteten. Tatsächlich konnten wir so die Glut geringfügig anfachen. Andererseits erwies sich diese Methode aber als recht mühselig, denn man bekam Rauch und heiße Asche ins Gesicht und wurde nach kurzer Zeit schwindelig. Da hatte ich die Idee, es mit der Fahrradpumpe zu versuchen. Andere machten mit, und siehe da, es klappte. Allerdings war der Erfolg teuer erkauft, denn meine Luftpumpe vertrug die Hitze nicht, wurde kurzatmig und war zu guter Letzt im Eimer.

Als wir gegessen hatten, entfernten wir den unglückseligen Ofenaufsatz und ließen uns im Kreis um das Feuer nieder, das sich nun endlich frei entfalten konnte. Dennoch wurden wir nur vorne warm – um nicht zu sagen geröstet -, während wir hinten infolge einer aufkommenden kühlen Brise zu frösteln begannen. Das hinderte uns aber nicht daran, ein Lied nach dem anderen zu singen, z. B. das von Bolle oder das von Kolumbus in Amerika, und zwischendurch Klaus’ Geschichten zu lauschen.

Gegen Mitternacht krochen wir endlich in die Zelte. Ich teilte mit zwei anderen ein „Amizelt“, das eigentlich nur für zwei gedacht war, und fand es ziemlich unbequem. Außerdem ging es draußen noch recht lebhaft zu, so dass ich lange nicht einschlafen konnte. Besonders störten mich ein Kofferradio und ein einsamer Sänger, der zu den Klängen einer Klampfe in Wandervogelromantik schwelgte.

Am frühen Morgen wachte ich davon auf, dass meine Füße sich draußen im nasskalten Gras befanden. Ich fühlte mich scheußlich nüchtern, rappelte mich auf und folgte meinen Füßen ins Freie. Es war noch ziemlich still, nur in einigen Zelten rumorte es schon. Hier und da krochen verschlafene Gestalten ans Licht, räkelten sich und begannen mit der Morgentoilette oder direkt mit dem Frühstück. Aus einem Zelt, das kaum größer als meines war, quollen zu meinem großen Staunen nicht weniger als fünf Mann heraus. Weit draußen am anderen Seeufer rief jemand unentwegt: „Ooooile!“ Ich überlegte, was das wohl bedeuten mochte, aber mir fiel nichts ein.

Inzwischen waren auch meine Kameraden munter geworden. Wir machten rasch Feuer für das Kaffeewasser und um uns zu wärmen. Nach dem Frühstück brachen wir zu einem längeren Spaziergang rund um den See auf. Unterwegs badeten wir, sammelten Waldbeeren und übten uns im Messerwerfen. Klaus wusste auch hier wieder etwas Unterhaltsames: Er fasste sein Fahrtenmesser mit Daumen und Zeigefinger am Griffende, hob den Arm, winkelte ihn dabei an und ließ das Messer mit der Spitze nach unten auf den Bizeps fallen. Der Witz dabei war, dass die Messerspitze vom harten Bizeps abprallte, ohne die geringste Verletzung zu erzeugen.

Das Mittagessen nahmen wir noch bei den Zelten zu uns, dann bauten wir ab und machten uns auf den Heimweg.

Die Bevertalsperre liegt ein ganzes Stück höher als Schlebusch, daher kamen wir gut voran. Auf der langen, steilen Abfahrt von Dabringhausen nach Altenberg überholte ich sogar ein Auto. Das machte richtig Spaß, aber so ganz wohl war mir auch wieder nicht dabei, weil ich bei solchen Abfahrten immer an Gabelbrüche und versagende Bremsen denken musste.

Ich kam jedoch heil nach Hause, und damit hatte ich meine erste, wenn auch kleine Radtour mit Anstand hinter mich gebracht.

Bevertalsperre. Um 1952 aufgenommen, allerdings nicht bei der Radtour

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.