DAS HAUS. Fotoserie von Manfred Schnell.

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Die Sprache der Dinge

Zufall und Nähe. Zwei Aspekte zur Entdeckung der Welt. Der kleinen Welt. Im Vorübergehen, ungewollt und ohne besondere Anstrengung.

Kleine Räume und steile Treppen. Werkzeuge und Maschinen, ein Stückchen Ladeneinrichtung, ein paar Teller und Tassen.

Dinge mit einem eigenen Gedächtnis: Funktion, Wirkung und Botschaft. Dinge als Spuren der Lebenswege ihrer Besitzer. Eine Entdeckungsreise mit Umwegen und Abkürzungen. Geduldet, geliebt, genutzt. Was ist, das bleibt. Nur irgendwann bringt die Elektrifizierung ein Radio und ein Telefon.

Die Kuchenform.

Mein Zuhause ist die Backstube, entweder im Ofen oder an meinem Platz im Regal. Ich wurde gehegt und gepflegt, geputzt, poliert, gefettet, verwöhnt und gefordert.

Manchmal wurde ich mit guter Butter eingefettet, die sich sich wie Sammet auf meine Eisenhaut legte, ein andermal nur mit einem schäbigen Schmalzrest eingerieben. Auch mit den Backzutaten ging es auf und ab. Nicht alles schmeichelte meiner schönen Form. Es gab gute und schlechte Zeiten.

Die ersten zehn Jahre des letzten Jahrhunderts waren gute Jahre. Jede Woche Korinthenkuchen. Dazu muss 200 Gramm Butter in einer großen Schüssel schaumig gerührt werden, dann gibt man nach und nach unter tüchtigem Rühren 8 Eigelb dazu und lässt langsam 200 Gramm Zucker einrieseln, und eine abgeriebene Zitrone. 8 Eiweiß fest schlagen und zusammen mit 200 Gramm Mehl, 100 Gramm Korinthen und 30 Gramm Sukkade behutsam mit der schaumig gerührten Masse verrühren. Dann ab in den Ofen bis die Kruste schön braun ist.

Ab 1914 wurde es knapp bis zum Kriegsgrießkuchen. Eier, Butter und Zucker gab’s nur auf Lebensmittelmarken, waren aber auch dann noch Mangelware. Ein Kuchen mit 50 Gramm Hefe, ohne Eier? Dazu wird die Hefe in 1/2 Liter warmer Milch aufgelöst und mit 1 Kilo Mehl, 100 Gramm Butter und 100 Gramm Zucker verrührt. Dieser Teig muss mindestens drei Viertelstunden an einem warmen Ort stehen, wird dann noch mal hin und her geknetet und schön locker in die Form gelegt. Man muss noch mal warten, bis er sich etwa verdoppelt hat, dann kann er in den Ofen. Glücklich ist, wer Rosinen hat.

Das blieb bis etwa 1950 der Standardkuchen für den Sonntag. Für die meisten jedenfalls. Aber dann – dann wurden die Gürtel nicht mehr enger geschnallt sondern weiter, bis nichts mehr ging. Ein Sonntagskuchen brauchte nun 300 Gramm gute Butter, 300 Gramm Zucker, 1 Tütchen Vanillezucker, 6 bis 7 Eier, 300 Gramm Mehl, 125 Gramm Gustin, 2 Teelöffel Backpulver, 250 Gramm gemahlene Haselnüsse und 3 Esslöffel Rum.

So zieht das Jahrhundert vorüber. Mangeljahre gehören zur Vergangenheit. Sonntagskuchen sind passé. Sahnetorten, Liebesknochen und Baisers sind angesagt. In allen Farben und Größen.

Für mich kommen ruhige Zeiten. Oft stehe ich wochenlang im Regal, ohne dass mich jemand eines Blickes würdigt, geschweige denn, mir mal mit einem Lappen den Staub aus den Rillen wischt.

Die Welt ist schön und bunt und neu, voller Reklame, voller Versprechen. Und ich? Ich bin altes Eisen.

© Gisela Fleischmann 2019

 

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