Fotografische Reise in die Sowjetunion. Zur Familiengeschichte Boström.

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Nur wenn ich mit ihm telefonierte, fiel mir sein baltischer Akzent auf: „Rrichtich, Jörrg!”, und der etwas trockene Satzsingsang, den meine Großtante Anna noch perfekter über ihre faltigen Lippen brachte. Balten, das wußte ich seit dem Vorschulalter, sind die Familienmitglieder meines Vaters, und die Oma mütterlicherseits stammt aus Petersburg. Alle „schwärrmten” von „Rrrrrußland” und verabscheuten die „Bolschewikkken”. Bei Kamevalsfesten, ganz unvermittelt, begannen alle Krakawiak zu tanzen oder Venjerka, und mein Vater legte die Platte auf vom Donkosakenchor – Stenchkarasin, der Räuber, die Abendglocken, Kalinka in engelhaft hohem Falsett und kellertiefen Bässen. Also – ein russenfreundliches Milieu – aber wohin mit den bösen Kommunisten, im Kalten Krieg? Sie haben, daran gab es keine Zweifel, die russische Kultur kaputt gemacht, die Massenmenschen, und die gute alte Zarenzeit – „Jeder hatte doch mindestens ein Dienstmädchen” – endgültig abgeschafft.

Vetter Wolodja war ein „rrechterr Luftikus, Frrauen, fuhr vierrspännig über den Newskij-Prospekt, hat mehr Geld ausgegeben, als sein Vaterrr verrrdient hat, als Beamter des Zaren… und dann ist er verhungert. Hat er nicht Rrecht jehabt?” fragt mich – damals dreizehn Jahre alt – meine Großtante Anna, schmal, hohe weiße Frisur, Goldbrille an der Kette. Ich meinte auch, besser erst Frauen, Pferde, Feste und dann verhungern, wenn es sein muß – aber möglichst spät. Vielleicht wäre ich lieber Bolschewik geworden. Sankt Petersburg hieß es immer, nicht Leningrad, alte Postkarten und Geschichten.

Das Familienalbum. Mein Großvater, Vaters Vater, ich habe ihn nie gesehen. Er existiert für mich als Fotografie und Anekdote. Botschka, das „Fäßchen”, sein Spitzname als Biertrinker und Student. Ich habe, als einziges Stück, seinen Bierkrug geerbt. Er studierte Medizin in St. Petersburg und Riga. Dann sieht man ihn, braungelb auf gelb, verschossen in einem Panjewagen sitzen, hinter zottigem Bauern auf dem Kutschbock, lässig, Jägermütze, Jagdmontur, sieht aus mit seinem Bart wie Wilhelm II. Auf dem Steppenboden vor ihm steht Freund und Arbeitskollege mit Großbilddreibeinstativplattenkamera. Da ist er, der Fotoapparat, der mich später lange verfolgen wird, verwandelt in eine Leica, auf dem Familienweg zurück bis Leningrad. Arzt Harald Carl Boström versuchte im Auftrag des Zaren eine Augenkrankheit der Steppenvölker zu kurieren. Ein Sozialjob! Heute wäre es eine ABM gewesen, aher er war, mit Landjunkerattitüde, Fürst Bronski auf Jagdausflug. Zwei Fotografien sind überliefert: eine Kirgisenfamilie vor ihrer Jurte und eine Gruppenaufnahme. Sie zeigt alle Patienten seines Krankenhauses in Wladikavkas, das ihn wohl vorübergehend seßhaft werden ließ. Er dazwischen, noch immer wilhelminisch, die Patienten mit Bärten und Kaftanen sehen aus wie Leo Tolstoi mit umwickeltem Kopf, Entwicklungshilfe auf zaristisch. Meine Oma wird dort meinen Vater zur Welt bringen, Nikolai, wie der Zar. Er wird russisch sprechen sein ganzes Leben und deutsch mit baltischem Akzent.

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Deutsch-russische Fotografie gab es nicht nur in der Plattenkamera meines Großvaters. Arbeiterfotografen der Weimarer Zeit tauschten Mappen und Ausstellungen mit den sowjetischen Fotokollektiven und Arbeiterkorrespondenten. Delegationen aus Berlin waren in Moskau und Leningrad. Eisensteins Filme „Oktober” und besonders sein „Panzerkreuzer Potemkin” beeinflußten durch expressiven Bildaufbau und dialektische Montage Bildstil und Layout der deutschen „Arbeiter Illustrierten Zeitung, AIZ”. Kandinsky wurde Kulturkommissar der Revolutionszeit und danach Lehrer im Bauhaus. El Lissitzky, Rodtschenko und andere beeinflußten dort auch die Fotografie. Von Malewitsch gingen starke Impulse aus in Richtung auf den deutschen und holländischen Konstruktivismus.

Nach dem Kriege wechselten zunächst zwischen der DDR und der Sowjetunion Bücher, Zeitschriften und Ausstellungen ihr Publikum. Solange die KPD in der BRD verboten und die DKP bürokratisch geächtet war, ließ sich der Kontakt im Klima eines neo-konservativen Antikommismus kaum pflegen. „Die größte Dummheit des 20. Jahrhunderts”, wie Thomas Mann diesen Trend genannt hat, ließ auch den intellektuellen Blick der Westdeutschen einäugig und kurzsichtig werden. Die Vorbereitungen für ein offenes Forum der Fotografie -und nicht nur dafür – sind geleistet bei uns durch die engagierte positive Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und seiner Kultur, ausgelöst von empörten Studenten seit 1968, von Arbeiterfotografen der BRD und durch Kulturabkommen auf der politischen Bühne.

Ich erinnere mich an die Angst meiner Mutter vor den Russen in den Jahren 1945-46, während mein Vater – russisch sprechend und als Leiter des Konstruktionsbüros – die Firma, in der er während des Krieges Rüstungsgüter produziert hatte, demontieren durfte für die Sowjetunion, um dann arbeitslos, aber am Leben wie seine Familie, in den abgeräumten Fabrikhallen zurückzubleiben. Sie haben ihn nicht mitgenommen. Offenbar hatten ihre Ingenieure ihn beim Verpacken beobachtet, um die damals größte Breitbandwalzstraße von Europa in vielleicht Woronesch oder Workuta wiederaufzubauen. Niemals ist er wieder in den Kaukasus gefahren, oder nach Leningrad – aus Angst, aus Abneigung, ein Enttäuschter auf dem falschen Pferd. „Für meinen lieben Jungen” widmete 1935 meine Oma ihm ein Buch, das ich heute besitze, der „Mythos des 20. Jahrhunderts” von Alfred Rosenberg, eine Bibel des Nationalsozialismus. Zu viele Baltendeutsche haben – den Kopf in den Wolken – in solchem braunen Kaffeesatz gelesen und nachher die Welt nicht mehr verstanden, nachdem sie in Fetzen zerplatzt war. Eine verpaßte Chance mehr und viele ungesehne, verdrängte Verbrechen. Wenn ich heute, 1988, mit den StudentenInnen und meiner Frau Gabriele in Vilnius, Riga und Leningrad herumlaufe, sehe, rede, fotografiere, tuscheln Tanten, Onkel, Vettern und Basen, Vater und Mutter ururururgroßartig um mich herum, ein Déjà-vu der Gene: ich war niemals vorher an diesen Orten. Die Schatten jener vermischen sich mit denen der Sowjetmenschen heute, die Jugendstil- und Klassizismusfassaden haben fotoartig Abdrücke gespeichert, die Bilder der Eremitage haben andere Boströms, Weissmanns etc. aus unserer Familie lange vor mir betrachtet. Ich verfolge mit ihren Gespenstern Gogols Figur, die mir eine Nase dreht.

Jörg Boström
Januar 1989
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